Reisen im Licht der Sterne by Alex Capus
Autor:Alex Capus
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2014-12-31T16:00:00+00:00
Anmerkungen und Zitatnachweise zum Kapitel 6
7
Der Kobold in der Flasche
Die Samoaner liebten den freundlichen Schotten, der so ganz anders war als die steifen Herren von der Deutschen Handelsgesellschaft. Sie bewunderten das große Haus, das auf Vailima Gestalt annahm, und die unerhörten Schätze, die er darin anhäufte. Stevenson war fröhlicher, großzügiger und charmanter als alle anderen Europäer auf Samoa; und da sein Clan stetig wuchs, musste er ein großer und gütiger Chief sein. Waren Louis, Fanny und Lloyd in den ersten Monaten noch allein auf Vailima gewesen, so war bald auch Fannys Tochter Belle mit ihrem Sohn Austin zu ihnen gestoßen, und wenig später ihr Ehemann Joe Strong, und schließlich auch noch Louis’ Mutter Margaret Stevenson und sein Cousin Graham Balfour.
Um Vailima in Schuss zu halten, stellte Louis zwölf Hausdiener und ebenso viele Plantagenarbeiter ein; insgesamt waren es zwanzig bis dreißig Menschen, die von seinem Geld lebten. Hinzu kamen die Kosten für Kleidung, Lebensmittel und Medikamente. Auch Fannys experimentelle Gartenplantagen kosteten Geld, ebenso ihre Parfümdestillerie, die nie zur Produktionsreife gedieh, oder ihr Nutzvieh, das immer wieder im Dschungel verloren ging. Die vergoldeten kleinen Ringe, die Belle den Hausmädchen schenkte, kosteten Geld. Lloyds Reitstiefel kosteten Geld, ebenso dessen Pferd, auf dem er die Plantagenarbeiter kommandierte, und die Eismaschine, die er aus Schottland mitgebracht hatte und die nie richtig funktionierte. Joe Strongs Leidenschaft für Schnaps und Frauen kostete Geld. Das prächtige Haus, das beständig vom Dschungel verschluckt zu werden drohte, kostete Geld. Und bald würde auch der kleine Austin Geld kosten, wenn er in Kalifornien zur Schule ging.
All diesen Verpflichtungen kam Louis mit dem Pflichtbewusstsein eines schottischen Clanchefs nach. Er achtete darauf, dass täglich ein Tischgebet gesprochen wurde. Er unterwies die Kinder in Religionslehre und Geschichte. An Weihnachten, Ostern und Pfingsten verteilte er schottische Kilts mit dem Muster der Stuarts an die samoanischen Haushaltsmitglieder und befahl ihnen, diese über ihren tätowierten Lenden zu tragen. Und wenn ein Zwangsarbeiter vor den Peitschen der deutschen Plantagenaufseher nach Vailima floh, nahm Louis ihn auf und bezahlte der Handelsgesellschaft die Ablöse.
Anfang 1891 bat ihn die London Missionary Society um einen Beitrag für die wöchentlich erscheinende Missionszeitschrift »O le Sulu o Samoa«, das erste und einzige Blatt in samoanischer Sprache. Louis sollte eine Erzählung zur moralischen Erbauung der Eingeborenen liefern, und die Missionare würden sie aus dem Englischen ins Samoanische übersetzen. Die Geschichte hieß »Der Flaschenkobold« und erschien in Fortsetzungen von Mai bis Dezember 1891. Alle schriftkundigen Samoaner lasen sie mit leidenschaftlichem Interesse, monatelang war sie erstes Gesprächsthema auf ganz Upolu – und bis an sein Lebensende kam Robert Louis Stevenson nicht mehr dagegen an, dass die Samoaner in ihm den Helden der Geschichte sahen und ihm fortan mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Mitleid, Neid und Abscheu begegneten.
Die Samoaner kannten den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit nicht. Was sie an Schrift bisher kennengelernt hatten, war die Bibel und ihre Auslegung durch die Missionare; jedes gedruckte Wort war das Wort Gottes, an dessen Wahrheit kein Zweifel möglich war. Deshalb lasen sie auch Louis’ Erzählung wie ein weiteres Kapitel aus
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